Fremdes Land.
Fremde Stadt.
Fremde Wohnung.
Vier fremde Menschen im winzigen Flur im vierten Stock eines Plattenbaus in Krakau.
Ungefähr so liefen die ersten Stunden meines Freiwilligendienstes im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps (ESK) hier in Polen ab. Eine Frau meiner Organisation IB Polska gibt uns die Schlüssel, erklärt uns alles und lässt uns dann in der Wohnung zurück. Nicht unbedingt der sanfteste Start in diese Erfahrung, doch im Laufe der nächsten Tage lernen wir sie und auch die anderen Freiwilligen kennen, erkunden gemeinsam die Stadt, knüpfen erste Kontakte und werden nach und nach an unseren Arbeitsorten vorgestellt. Für mich führte dieser Start schließlich zu meinem Einsatzort: einem Kindergarten in Podgórze .
Meine Arbeit hier beschränkt sich jedoch nicht nur auf eine 30h Woche im Kindergarten, in der ich die Kinder auf Exkursionen begleite und regelmäßig eigene Unterrichtseinheiten plane. Neben dem Polnischunterricht vor Ort und den regelmäßigen Workshops mit anderen Freiwilligen, gibt es zahlreiche weitere Möglichkeiten neue Leute zu treffen und sich zu engagieren. Im multikulturellen Zentrum der Stadt finden regelmäßig Tanz-, Yoga- und Sprachkurse statt. Außerdem können wir eigene Workshops planen oder gemeinsam für Bedürftige kochen.
Mehrere Monate in einem neuen Land mit einer fremden Sprache und unbekannten Traditionen wirken im ersten Moment vielleicht einschüchternd und das war es auch. In den Monaten vor meiner Abreise habe ich die Frage „Warum ausgerechnet Polen?“ mehr als nur ein paar Mal gehört und ich habe sie mir auch selbst oft genug gestellt, ohne die Antwort zu kennen. Wieso sollte man seine Zeit in einem Nachbarland gerade mal ein paar hundert Kilometer von Dresden entfernt verbringen, wenn einem die Tür zu ganz Europa offensteht?
Polen ist trotz seiner Nähe, ein faszinierendes Land, welches anderen Einsatzorten des ESK in nichts nachsteht. Die Winter hier sind kalt und dunkel, doch die Menschen herzlich und gastfreundlich, auch wenn sie im ersten Moment etwas verschlossen wirken. Mehrmals wurden wir von unseren Vorgesetzten auf einen Kaffee oder sogar nach Hause eingeladen oder bekamen von unserem Vermieter während der Waschmaschinenreparatur Restaurantempfehlungen.
Außerdem ermöglicht mir meine Arbeit im Kindergarten viele Traditionen und Feiertage aus erster Hand mitzuerleben und zu feiern. Zum Beispiel wird hier jedes Jahr am 29. November Andrzejki gefeiert. Hierbei geht es darum sich gegenseitig die Zukunft vorherzusagen, um vor allem jungen Frauen Auskunft über ihr Liebesleben, aber auch den Job oder Gesundheit zu geben. Im Kindergarten tanzten und sangen die Kindergärtnerinnen als Hexen mit den ebenfalls verkleideten Kindern und sagten ihnen ihre Zukunft voraus.
Eine weitere Sache, die mich insbesondere an der Stadt Krakau fasziniert ist die Geschichte, die sich hier so lebendig anfühlt. Für die meisten Freiwilligen gehört bei der geringen Entfernung mit dem Zug auch ein Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau dazu. Wer den „Film Schindlers Liste“ gesehen hat wird jedoch auch hier in Krakau viele Szenen wieder erkennen. Mein Arbeitsweg führt mich beispielsweise fast täglich durch die ehemaligen jüdischen Ghettos, vorbei an Kulissen, die ich bisher nur in schwarz-weiß kannte. Jetzt ziehen sie in Farbe am Fenster der Straßenbahn vorbei, bis ich meine Haltestelle erreiche, ganz in der Nähe des Platzes auf dem vor gerade mal etwas mehr als 80 Jahren mehrere Tausend Juden deportiert wurden. Vieles kannte ich bereits aus Büchern und Filmen, aber es hier täglich zu sehen ist etwas völlig anderes.
Auch wenn ich am Anfang definitiv berechtigte Angst davor hatte, was mich hier erwarten würde und die letzten drei Monate nicht nur Höhepunkte hatte, überwiegt das positive schon jetzt eindeutig. In solchen Situationen ist man dazu gezwungen sich mit sich selbst zu beschäftigen, nicht immer angenehm, aber notwendig. Das Gefühl selbst in einem fremden Land trotz Sprachbarriere Freundschaften zu schließen und den eigenen Alltag das erste Mal völlig selbst zu gestalten, hat mich eine neue Art von Selbstvertrauen und Sicherheit fühlen lassen. Jetzt weiß ich: Wenn ich das geschafft habe, werde ich auch kommende Hürden überwinden. Es ist in Ordnung nicht immer alles bereits geplant zu haben und zu wissen, man muss nur mutig genug sein sich darauf einzulassen.
Jetzt drei Monate später ist vieles nicht mehr fremd.
Nicht das Land.
Nicht die Stadt.
Nicht die Wohnung.
Nicht einmal die Sprache.
Und auch nicht die vier Fremden aus dem Hausflur.
